Die Grenze

Gemächlich erhob er sich. Er wischte sich die Erde von seinen Hosen, pickte sich einige Rindenstücke aus der Jacke und schüttelte die Tannennadeln von den Kleidern, so dass sie in alle Richtungen zerstoben wie ein aufgescheuchter Fischschwarm. Er schloss kurz die Augen. Die Sonne stand schon tief am feurigen Himmel, kurz vor ihrem Untergang hinter dem Buchenwäldchen jenseits des weiten Moores, an dessen Rand er sich jetzt befand.

Langsam ging er auf den schmalen Weg zu, der sich wie ein Fluss durch das Moor schlängelte. So leicht war es ihm noch nie gefallen. Leicht war es ihm überhaupt noch nie gefallen. Am wenigsten damals, als er mit seinem Grossvater hierher gekommen war.

Sein Grossvater nimmt ihn hinten auf seinem Fahrrad mit. Er zeigt ihm den neu erbauten Bahnhof des Dorfes. Dann zeigt er ihm das riesige Moor. Dahinter ist ein bedrohlicher Wald. Wie hundert Titanen. Im Moor sieht er Geister. Sie leben dort. Sie tanzen dort. Er fürchtet sich vor ihnen. Er zittert. Es ist ja noch früh am Morgen. Im Frühling sind die Morgen kalt. Das hat ihm sein Grossvater gesagt. Er hatte schnell wieder gehen wollen.

Das war das erste Mal gewesen, dass er die Grenze gesehen hatte. Der Anblick hatte ihn stark geprägt. Er hatte ihm einen solchen Schrecken eingejagt, dass er sich während vieler Jahre nicht mehr zurückzukehren getraut hatte. Nach der Beerdigung seines Grossvaters war es sogar noch schlimmer geworden.

Er bemerkte, dass er stehengeblieben war. Sein Puls raste, sein Atem ging schnell. Mit der Erinnerung kehrte auch die Angst zurück. Ihm schwindelte kurz. So entschied er, sich noch einmal zu setzen und neue Kraft zu gewinnen für seinen Weg.

Er war erst wieder hergekommen, als er dieses Erlebnis genug verarbeitet geglaubt hatte. Dieses Mal fährt er mit seinem Vater her, in dessen Geländewagen, einem schweren Toyota Landcruiser. Ein solches Modell kann er sich damals noch nicht leisten, dafür verdient er zu wenig. Sie fahren direkt bis ans Ufer des Moores, denn eigentlich möchte sein Vater dort picknicken. Sie steigen aus. Die Sonne brennt auf sie nieder, es ist ein prächtiger Sommertag. Doch wie er den Wald sieht, jenseits des Moores den ganzen Horizont bedeckend, so dunkel und schauerlich, da ist in ihm seine Kindheitserinnerung bereits wieder auferstanden und gegenwärtig. Er glaubt, im Moor Dämonen zu hören, wenn ihn auch sein Vater ausdrücklich vom Gegenteil zu überzeugen sucht. Sofort entscheidet er, einen anderen Picknickplatz zu suchen.

Das war das zweite Mal gewesen, dass er die Grenze gesehen hatte. Und wieder musste viel Zeit vergehen, bis er sich auch nur in die Nähe zurück wagte. Nicht einmal sein Psychologe war im Stande gewesen, sein Problem zu ergründen.

Sein Herz pochte noch immer heftig, wie der Bass in den Discotheken, die er damals so oft besucht hatte. Dennoch beruhigte er sich langsam wieder, denn auch dieses Erlebnis lag nun schon so lange zurück. Trotzdem entschied er sich noch dagegen, weiterzugehen, und so blieb er noch eine Weile im Schnee sitzen.

Noch einmal, Jahre später, hatte er sich dann dafür entschieden, seinerseits seinem Sohn diese Stelle zu zeigen. Und da er gerade einmal im nahegelegenen Dorf auf der Durchreise ist, beschliesst er kurzerhand herzukommen. Er stellt seinen Schwebewagen wieder am Rande des Moores ab. Sein Sohn ist davon begeistert, sich endlich wieder einmal in der freien Natur aufhalten zu können. Ihm selbst vergeht das Lachen schnell. Es ist unglaublich, wie verhext. Er glaubt den Teufel höchst persönlich im Wald zu sehen. Rot, gelb und braun widerspiegelt der Wald das Böse, hat es allein auf ihn abgesehen. Sein Sohn redet auf ihn ein, versichert ihm fortwährend, dass es sich nur um ein nachmittägliches Schattenspiel handle, doch er hört nichts. Er will nichts hören. Der Wald scheint auf ihn zuzukommen, scheint ihn umarmen zu wollen, ihn zu zerquetschen wie eine Haselnuss. Unüberlegte hetzt er zurück zum Schweber und lässt seinen Sohn - hätte dieser nicht geistesgegenwärtig schnell gehandelt - beinahe allein zurück.

Das war das dritte Mal gewesen, dass er die Grenze gesehen hatte. Er glaubte bereits nicht mehr daran, dass er je einmal die Landschaft dort in aller Ruhe würde geniessen können.

Doch er begann zu vergessen.

Er sass nun völlig ruhig im festen Weiss. Dass es sich nicht sonderlich behaglich anfühlte, kümmerte ihn kaum. Er sah sich um, betrachtete den Wald, das Moor, hinter sich das offene Weideland.

Jahre nach diesem Zwischenfall war er trotzdem noch einmal zurückgekehrt. Ein letztes Mal. Er lässt sich im naheliegenden Dorf absetzen und kommt nun zu Fuss her. Allein. Obwohl er einen mühsamen Marsch vor sich glaubt, kommt er erstaunlich gut voran. Den Wald kann er schon aus der Ferne sehen. Die Bäume tragen kaum noch Blätter, Licht bricht an vielen Stellen hindurch, ergiesst sich über das Moor. Die Rot- und Gelbtöne des Himmels über dem nackten Wald zerfliessen zu einem impressionistischen Meisterwerk der Natur. Solch ein Naturschauspiel hat er schon so lange nicht mehr erlebt. Er glaubt sogar Engel auf dem Moor tanzen zu sehen, ein graziöses Ballett des Himmlischen auf Erden. Unter einem einsamen Baum ruht er sich aus.

Die sollte das letzte Mal sein, dass er die Grenze sah. Er fühlte es. Und er fühlte auch, wie ihn die Neugierde packte und auf das Wäldchen zuzog.

So gab er sich einen Ruck und ging auf das Licht zu.

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