Metropolis

Der Held kullerte eine saftgrüne Wiese hinunter, erreichte bald die abschüssige, steingraue Felswand und fiel, zehn, zwanzig Meter vielleicht, bis er sich in letzter Sekunde noch an einem abstehenden schwarzbraunen Baum festhalten konnte und sich in Sicherheit zog. Er würde um Hilfe rufen, gerettet werden und es seinen Gegenspielern nicht einfach machen. Denn gerettet würde er ganz sicher, das wusste nicht nur er.

Tom wandte sich von der Mattscheibe ab und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit, Recherchen anzustellen, um weitere U-Skripts zu produzieren. Zwar stammte jenes, dessen Verfilmung gerade auf Kanal 43 gezeigt wurde, nicht von ihm, doch hätte es dies durchaus sein können. Er hatte noch einige Stunden Zeit, bevor er es einzureichen hatte.

Beinahe täglich musste er ein U-Skript einreichen, das war sein Job. So beschäftigte er sich sehr oft auch mit alter Literatur. Irgendwo stammten ja seine Ideen auch her. über seinen Bildschirm flimmerten seitenweise Buchstabenkolonnen. Er nahm sie in sich auf, verarbeitete sie und spuckte das Resultat wieder aus. So einfach war das.

Schon längst wusste er, dass Gras immer grün war. Ob grasgrün, smaragdgrün, giftgrün, hellgrün oder dunkelgrün, das war eigentlich egal. Die Typen der Abteilung für Visualisierung waren sicher darüber im Bilde, welches gerade in Mode war. Und Felsen war selbstverständlich grau. Auch hier gab es keinen Unterschied zwischen schiefergrau, graphitgrau, rauchgrau, hellgrau oder aluminiumfarben. Er selbst war nur für die Handlung verantwortlich. Helden hingen in Felswänden, schwammen durch weite Flüsse, kletterten auf Bäume. Das war sein Ressort.

Ein kühler Windhauch wehte ihm durchs Haar, Nieselregen küsste ihn, mattgelbe und knallrote Blätter tanzten vor ihm im Kreis. "Hallöchen meine Lieben!" Er schreckte hoch; seine Frau Ruth war endlich mit Stefan, dem jüngeren seiner Söhne, aus der Schule zurückgekehrt. Stefans Bruder wandte den Kopf nur kurz von der Mattscheibe. Bald würden sie nach oben zu Abendessen gehen. Tom beeilte sich, seine Arbeit zu beenden.

Dreimal 19 Stufen weiter oben gab er das Skript in der Redaktion ab, 95 Stufen später setzte er sich zu seiner Familie an einen Fenstertisch. Ungeduldig trugen die Kinder das Essen zum Tisch. Der Raum wogte in einem Stimmenbrei, hie und da hörte er sogar einen Kollegen aus seiner Abteilung heraus. Schnell assen sie ihre Rationen auf. Der Anblick der Stahlträgerkonstruktion, gefüllt mit Quickbeton, verziert mit Eisengerüsten und Aluminiumverschalung, 372 Meter hoch, 200 Meter breit, wahr ihm nicht sonderlich genehm; nicht einmal wenn man sie vor dem düstergrauen Hintergrund kaum erahnen konnte. Es war auch nur der Block gegenüber, getrennt durch eine tiefe und düstere Schlucht, in der allerlei schmutzige Dinge geschahen, Hauptsitz der Konkurrenz, Kanal 158.

Zurück in der Wohnung begann er mit einem weiteren Entwurf. Die Kinder machten es sich bei der 245. Folge von "Snookers" bequem, während Ruth die Unterrichtseinheit des nächsten Tages durchging. Kurz ein digitales Buch zufällig ausgewählt, aufgeschlagen, und schon ward die 250. Folge geboren.

Einmal hatte er über "Geld" gelesen, Metallstücken und Papierchen, die dem Warenaustausch dienten. Prompt hatte er es auch verwenden wollen, doch der Boss war gar nicht über den Einfall erfreut gewesen. Es sei nicht gut, den Leuten zu zeigen, wie es anders ginge als durch Symbiose mit einem Grossbetrieb. Na ja, so war's mit allen zu extravaganten Ideen. Dennoch war jedes seiner Skripts ein Unikat, zumindest in der Personenbesetzung änderte er immer etwas.

Sein Held spedierte soeben einen Gegner in matschigen Schlamm, setzte sich auf ihn und hielt ihn fest. Unheimliche Rufe und Schreie drangen aus dem düsteren Wald, doch ein Held lässt sich nur schwerlich einschüchtern. Graue Wolkenfetze waren durch die Baumkronen hindurch sichtbar. Wasser goss daraus, durchnässte Tom von oben bis unten. Er lief los, um einen Unterschlupf zu finden. Dabei spritzte brauner Dreck überall um ihn herum, lose Blätter fielen ihm entgegen, Wurzeln stachen aus dem Boden. Er stolperte, fiel.

Mühsam rappelte er sich auf, beschloss, dass auch er Schlaf benötigte, und ging zu Bett. Sein Zimmer glänzte nur noch matt in den verschiedenen Grau- und Beigetönen. Hie und da ein Fleckchen Grün oder Blau, doch ansonsten sah es so aus wie jedes Zimmer. Er legte sich ohne sich umzuziehen auf die Schaumstoffmatratze und entschwand sehr schnell in tiefe Dunkelheit.

Am Ende des Tunnels wurde das Licht immer intensiver. Bald stand er am Rande eines Bächleins, das munter durch eine Lichtung floss, die gerundeten Steine mit klarstem Wasser umschmiegend. über ihm prangten weisse Schäfchen am hellblauen Himmel, verdeckten ab und zu die grellgelbe Sonne. Nur ganz in der Ferne hing eine grauschwarze, undurchdringliche Wand in der Landschaft, eine immense Wolke, die sich zur Ruhe niedergelassen hatte und nun zu träge war, wieder hochzusteigen.

Er atmete den würzigen Duft von frischem Harz, von trockenen Gräsern ein, trank vom Lebenselixier, setzte sich auf das sanfte Rund eines weichgewaschenen Steines. Vögel zwitscherten in der Ferne, unsichtbare Waldbewohner huschten durchs Halbdunkel, Fische führten im Bach ihre Kunststücke auf. Plötzlich schob sich die grauschwarze Wand auf ihn zu, riss den Wald an sich, ergriff den Bach, fiel über ihn her.

"Guten Morgen, mein Schatz". Was, war bereits wieder Morgen? Na dann, duschen, frühstücken und nichts wie zurück an die Arbeit.

Kurz vor dem Mittagessen rief ihn sein Boss zu sich. Er bot ihm die Gelegenheit, wieder einmal in eine VR-U-Sitzung zu gehen. Allmonatlich durfte er einmal virtuell erleben, wie die Wirklichkeit in den Filmen von innen aussah. Nur so blieb man auf dem Laufenden. Dankbar akzeptierte er.

Später Mittagessen, wie immer am Fensterplatz, dann wieder arbeiten.

Stefans Bruder kommt aus der Schule herauf in die Wohnung, setzt sich vor die Mattscheibe, schaltet das Gerät ein. Gerade eben kullert ein Held eine saftgrüne Wiese hinunter, erreicht eine abschüssige, steingraue Felswand, fällt zehn, zwanzig Meter vielleicht, bis er sich in letzter Sekunde noch an einem abstehenden schwarzbraunen Baum festhalten kann und sich in Sicherheit zieht. Er ruft um Hilfe und wird gerettet, beginnt, seinen Gegenspielern das Handwerk zu legen. Leicht wird er es ihnen nicht machen.

Thomas wendet sich von der Mattscheibe ab und konzentriert sich wieder auf seine Arbeit...

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