Moonrise

Hinter ihnen vereinte sich das riesige Schleusentor sanft seufzend mit dem es umgebenden Boden. Nun waren sie allein, und ihr Ende nahte bereits. In etwa einer halben Stunde, so vermutete er, würde alles vorüber sein.

Er betrachtete seine nähere Umgebung. Ganz in der Nähe sah er einen halbwegs trockenen Stein. Seine Stiefel schmatzten bei jedem Schritt, den er über die sumpfige Oberfläche tat. Als er sich schliesslich auf den Stein setzte, betrachtete er gelangweilt die grünbraune Farbe, die seine Stiefel während der paar Meter Fussmarsch angenommen hatten.

Ein dumpfes Klopfen, gefolgt von einem tiefen Dröhnen, liess ihn sich zur Schleuse umwenden. Wie von Sinnen hämmerte sein Leidensgenosse Shreknic auf die riesenhafte Metallplatte ein. Er würde keinen Erfolg haben, die Schleusen waren für viel wuchtigere Hiebe und unendlich viel mehr Druck konzipiert als ein lächerliches handtellergrosses Stück Rundstein je erzeugen konnte. Shreknic würde sicherlich bald einsehen, wie sinnlos sein Unterfangen war.

Unbemerkt hatte sich eine Hand selbständig gemacht und schützte seine Augen vor der Sonne. Diese gleisste in weiter Entfernung bläulich-weiss und unerträglich grell. Sie stand nun schon tief über dem Horizont, ein weiteres Zeichen dafür, dass es nicht mehr lange dauern würde.

Und dabei hatte alles so gut begonnen. Vor einem halben Standardjahr hatten sie in dieser Weltraumspelunke auf einem abgelegenen Asteroiden aus vertrauenswürdiger Quelle erfahren, dass auf Hades Titanium und Gold aufgespürt worden waren. Die ersten Schürfungen hätten gerade begonnen, eine ideale Gelegenheit also, um sich ein wenig zu bereichern. So hatten sie denn auf einem Erzfrachter angeheuert, der auch Hades als Destination hatte. Einen Monat leichte Arbeit später hatten sie bereits im Hauptsternenhafen von Hades angedockt und waren von Bord gegangen. Mit viel gutem Zureden und ein wenig finanzieller Absicherung waren sie schnell zu Bürgern geworden, denn Touristen gab es auf Hades keine.

Die Bevölkerung von Hades war nicht sehr zahlreich, einige Tausende vielleicht, für mehr war kein Platz vorhanden. Da man auf Hades nur in einigen Metern Tiefe überleben konnte, jedoch nicht den ganzen Planeten aushöhlen mochte, würde dies wohl auch weiter so bleiben. Strikteste Regeln sollten einer Übervölkerung vorsorgen. Aus diesem Grund lebten nur sehr ausgekochte und abgestumpfte Rangers auf diesem Planeten, die darüber hinaus auch noch nach einer sehr eigenen Philosophie lebten.

Ein lautes Heulen liess ihn aufschrecken. Shreknic musste sich entweder auf die Finger geschlagen haben, oder er hatte endlich eingesehen, wie sinnlos seine Bemühungen wirklich waren. Jedenfalls raufte er sich das Haar, riss und zerrte daran, rannte wie wild auf der Schleuse umher und verwünschte abwechslungsweise sich selbst, Hades, seinen Mitverschwörer und den Rest des Universums.

Hätten sie gewusst, was die Konsequenzen sein konnten, so wären sie sicherlich nicht hergekommen. Doch da es nun einmal geschehen war, machte es keinen Sinn mehr, sich noch darüber den Kopf zu zerbrechen. Und erst recht nicht, ihn zu verlieren. Dem Schicksal ins Angesicht zu sehen war noch das einzig Vernünftige. Dazu hatten sie ja noch das Privileg, Elysium zu sehen.

Sicherlich machte er sich auch Vorwürfe, dass ihr Plan fehlgeschlagen war. Doch wer konnte wissen, dass Diebstahl bereits als Kapitalverbrechen gelten sollte auf diesem Planeten? Die Bevölkerung von Hades solle rein gehalten werden, hatte der Richter argumentiert. Potentielle Kriminelle gäbe es keine auf Hades, unehrenhafte Gedanken würden im Keim erstickt. Und ab und zu würde ein Exempel statuiert. Punkt.

Nach wenigen Monaten hatten sie sich eingelebt gehabt und sich eigentlich bereit genug gefühlt, es zu wagen. Ein Transportschiff sollte im Orbit warten, um sie dann so schnell wie möglich aus der Hölle in himmlische Gefilde zu erheben. Doch wider Erwarten waren die geschürften Ressourcen überwacht gewesen.

Gefängnisse, so hatten sie erfahren, gab es auf Hades keine. Zuwenig Platz. Abschieben gab es auch nicht, man wollte nicht für übermässige Kriminalität auf anderen Planeten verantwortlich sein. Und Straftätern eine zweite Chance geben erst recht nicht. Zu ihrem Entsetzen gab es nur eine einzige Strafe: die Todesstrafe.

Shreknic krümmte sich auf dem harten Boden. Er keuchte und hustete in unerschöpflicher Pein und Agonie. Er zitterte und schüttelte sich, wimmerte und kreischte. Grund war wohl die Dämmerung, die das Verschwinden der Sonne und das Erscheinen des Mondes ankündigte. In einigen Minuten wäre alles vorüber.

Immerhin, so hatte man ihnen mitgeteilt, wäre der Tod auf Hades etwas Einmaliges. Kein Erschiessen, keine Giftspritze oder Schierlingsbecher, nein, das Betrachten des schönsten Mondaufganges diesseits des Orions sei die Strafe. Verwundert hatten sie sogleich nach dem Haken gefragt.

Hades' Mond Elysium kreise in einer sehr tiefen Umlaufbahn, habe also einen sehr starken Einfluss auf die Gezeiten des Ozeans. Nur auf der dem Mond abgewandten Seite rage Land über die Wasseroberfläche. Mit Erscheinen des Mondes würde dieses Land überflutet. Ein Vollmondaufgang auf Hades sei jedoch trotz allem einzigartig. Nur dem Tode Geweihte hätten das Privileg, einen solchen mitzuerleben, da die Überlebenschancen eines solchen Naturschauspieles unwahrscheinlich gering seien.

Dann hatte sich das titanene, mit Grünspan überzogene Schleusentor hinter ihnen geschlossen.

Er sah auf, Schwärze umwogte ihn. Die Sonne war untergegangen. Shreknic heulte auf, schrie markerschütternd. Warum bloss konnte er sein Schicksal nicht akzeptieren? Er selbst jedenfalls wandte sich einmal mehr um, schaute in die Richtung, wo der Mond in Kürze aufgehen musste.

Mildes, bläuliches Schimmern verriet die Ankunft Elysiums. Ein einsamer Lichtstrahl stach zwischen zwei Erhebungen hervor. Der vom Ozean glattgeschliffene Stein strahlte von einer schwachen Aura umgeben. Langsam überzog die Aura den ganzen Horizont. Ein Meer von Licht schien heranzukriechen.

Eine weissliche Wölbung trennte sich allmählich vom Vordergrund, stieg wie in Zeitlupe das Himmelsrund empor. Ein mysteriöses Muster zeigte sich auf der Oberfläche des Mondes. Schriftzeichen einer göttlichen Macht. Voraussagen über das Schicksal seiner Beobachter. Das eigene Leben, ausgedrückt in Kreisen und Flächen.

Der Planet erschauderte unmerklich unter dem liebkosenden Schein Elysiums. Der Boden verwandelte sich in ein Meer aus marinefarbenem Stein, der Himmel erstrahlte in Indigo. Geisterhaft wanderten dunkle Wolken vom Trabant in den Hades. Boten aus dem Tartaros.

Zunehmendes Rauschen mischte sich in den Wind. Sphärische Klänge erklangen und widerhallten. Eine himmlische Melodie, getragen vom Wind, wie eine einsame Hirtenflöte in der unendlichen Weite des Kosmos.

über dem Horizont von Hades stand Elysium, darunter der Tartaros. Elysium erzählte seine Geschichte. Eine Geschichte von Vielen, deren Angesicht sich ins Antlitz des Mondes geprägt hatte. Das Rauschen nahm langsam an Intensität zu. Ein phosphoreszierender Wasserfall bildete sich zwischen zwei Felsen. Bläulich-weiss schimmerndes Wasser lief tröpfchenweise über kühlen Stein, schien ihn zu erwärmen. Die kühle Nacht wich. Im wärmenden Licht bildeten sich kleine Pfützen, Teiche, Seen. In jedem widerspiegelte sich das Elysium, bald hundertfach, bald tausendfach.

Die Melodie widerhallte im Wind, die Hirtenflöte spielte leiser. Ein Meer des Rauschens wogte heran, brach sich an Klippen und Felsen. Der Wind trug Wassertropfen mit sich, der Himmel begann zu schimmern. Licht brach sich, Tausende von Regenbogen bildeten sich am Firmament. Das Feuer eines jeden Sternes brach, ging schimmernd und flackernd im langsamen Farbenspiel seinen Weg vor dem Mond her.

Die Wasserfälle vermehrten sich, bildeten helle Linien auf dem dunklen Grund, schienen die Schriftzeichen Elysiums auf Hades nachschreiben zu wollen. Das Tröpfeln nahm zu, das Rauschen ebenfalls, stetig, wie kosmisches Hintergrundrauschen, die Hirtenflöte verklang.

Elysium bewegte sich in Richtung Zenit. Hinter den Wasserfällen und den dunklen Schatten kräuselten sich die Wasser, wellten, bildeten Schaumkronen. Die düsteren, steinernen Hügel überzogen sich mit einem leuchtenden, glimmernden Film. Der Grund begann in allen Blau- und Weisstönen zu pulsieren.

Der Horizont gleisste auf, ein Lichtmeer strömte heran. Das Rauschen wurde zu einem Ozean. Die Wasser schwappten über.

Die grellblaue Sonne war bereits wieder aufgegangen. Gleissendes Licht umhüllte sie, brannte in ihren Augen. Schrilles Pfeifen entwich dem Rauschen, stach in ihre Ohren. Erste Wellen schwappten ihnen um die Füsse, drangen in die Stiefel ein. Blind und taub wurden sie von den eisigen Wassermassen mitgerissen, in Strudeln hinuntergezogen. Ein letzter Aufschrei, Shreknic war verschwunden. Er entspannte sich und wartete ab.

Der Helligkeit wich die Dunkelheit. Ein einzelnes sanftes, weisses Licht bildete das Ende eines Tunnels. Er würde wieder mit Shreknic zusammentreffen. Wer immer die Namen Hades, Elysium und Tartaros sich erdacht hatte, konnte nicht wissen, wie es wirklich sein würde...

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