Ultimatum

Ich erhob mich, machte einige Schritte auf und ab und setzte mich wieder. Wiederum trommelte ich mit den Fingerbeeren auf die Tischoberfläche, liess ein Bleistift mit den Fingern kreisen und zerknüllte ein weiteres Blatt.

Schon wieder hatte ich erfolglos versucht, mich von mir zu lösen, noch einmal neuen Stoff für eine weitere Geschichte aus meinen Hirnwindungen zu saugen. Es musste doch möglich sein, mit meiner Erfahrung noch einen weiteren Text zu formulieren. Aber nein, nichts regte sich, kein einzelnes Fragment wollte sich bilden, keine einzelne Szene formte sich vor meinen Augen. Ich sass im geistigen Nirwana.

Lebt man einmal zu lange mit seiner Arbeit, ist man über den Status der Symbiose längst hinweg, dann wird man davon abhängig, kann nicht anders als sie wieder und immer wieder auszuführen. Genauso ging es mir, wie einem Raucher, der eine nicht vorhandene Zigarette zu greifen versucht, wie einem Ertrinkenden, der sich an einen Strohhalm klammert.

Vieles hatte ich bereits ausprobiert. Ich hatte die ruhmreiche Geschichte vergangener Zeiten miterlebt, romantische Abenteuer in der Gegenwart und spannende Ereignisse in der Zukunft. Ich hatte sämtliche Grenzen überschritten, war genauso in den Weltraum vorgestossen wie in mein eigenes Inneres. Ich hatte Leiden gesehen und Freuden, mehr als sich viele Personen vorzustellen vermögen. Ich kannte jedes Detail unserer Welt, fühlte mich da genauso zu Hause wie auf jeder anderen.

Trotzdem wollte es mir nicht gelingen, noch einmal, ein letztes Mal vielleicht, solch eine Reise ins Unbekannte zu unternehmen. Nichts Neues wollte sich mir eröffnen, mein Alptraum war wahr geworden.

Erneut flog ein zerknülltes Notizpapier in Richtung des kleinen Berges, der während der vergangenen Stunden vor mir aufquoll. Vielleicht sollte ich eine kurze Pause einlegen, abschalten und ein wenig schlafen. Oder ein Buch lesen.

In Gedanken versunken liess ich meine Finger achtlos über lange Bücherreihen laufen. Plötzlich schreckte ich hoch. Eine neue Idee keimte in mir. Ruckartig zog ich das Buch, das meiner Rechten am nächsten war, heraus: es war die Bibel.

Am Anfang schuf Gott Universum und Sein; das Universum aber war wüst und leer, das Nichts lag über dem Universum, und der Geist Gottes schwebte darüber.

Da sprach Gott: Es werde Licht. Und es ward Licht. Und Gott sah, dass die entstandene Explosion gut war. Gott schied das Sein vom Nichts und nannte das Sein Materie und das Nichts Kosmos. So verging das erste Äon.

Dann sprach Gott: Ordnung entstehe in der Materie und scheide sie vom Universum. Gott bildete also Materieklumpen und Materiehaufen. So geschah es, und Gott nannte die Materiehaufen Galaxien. So verging das zweite Äon.

Dann sprach Gott: Die Galaxien sollen sich kristallisieren, damit in ihnen Raum entstehe. So geschah es. Die Kristalle nannte Gott Sterne und den Raum Weltall. Und Gott sah, dass es gut war.

Dann sprach Gott: Im Raum bilden sich Planeten und Monde, Kometen, Asteroiden und Meteore. So geschah es. Die Planeten brachten Ursuppen hervor, und Gott sah, dass es gut war. So verging das dritte Äon.

Dann sprach Gott: Es entstehe Leben. Und die Ursuppen bildeten Aminosäuren und Proteine. Gott liess sie sich duplizieren. Und Gott sah, dass es gut war. So verging das vierte Äon.

Dann sprach Gott: Zellen bilden sich und verbinden sich. So vereinten sich die Aminosäuren und Proteine zu Zellen und bildeten Bakterien und Algen. So verging das fünfte Äon.

Dann sprach Gott: Höhere Lebensformen bilden sich in Wasser, Luft und Erde. So geschah es. Zellen mutierten und schlossen sich zusammen. Und Gott nannte sie Tiere, Fische und Vögel.

Dann sprach Gott: Es werde Ratio. Und es ward Ratio. Und mit der Ratio schuf Gott mich nach seinem Ebenbild. Und Gott sah, dass ich ihm gut gelungen war. So verging das sechste Äon.

Während des siebten Äons jedoch ruhte Gott und bewunderte das Werk, das ihm gut gelungen war. Er ergötzte sich an seiner Schöpfung und wusste, dass er etwas noch nie Geschaffenes erreicht hatte.

Mich setzte Gott in den Garten Eden, wo es mir gut gehen sollte. Da sah Gott, dass ich allein war, und er erschuf mir einen Mitmenschen. Er liess uns gewähren im Garten Eden. Jedoch sprach er: Ihr sollt nicht essen vom Baum des Wissens in der Mitte des Gartens, sonst werdet Ihr hier nicht länger verweilen können.

Doch wir assen vom Baum des Wissens, und so stand mir ein neues, unbekanntes Universum offen, das ich und meine Nachfahren bewohnen und entdecken können würden...

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