Der Tourist

Als er aus dem Reisecar hinaus auf die Strasse stieg, war sein erster Gedanke: "Was für ein Dreckloch!" In seiner Nase mischte sich zur gewohnten neutralisierten Luft aus der Klimaanlage ein undefinierbarer Geruch, der von salziger Meeresluft, über das Aroma von ausgelaufenem Benzin bis zum Gestank einer Kanalisation alle übelkeitserregende Düfte in sich zu vereinen schien. Diesem ersten Blick, den er Antiqua gewidmet hatte, hatte er bereits ansehen können, was sich da alles zusammenbraute. Kahle, von Rost zerfressene oder vom Regen verwaschene Häuserblöcke, mitten im Bau verlassene und schon wieder halb zerfallene Konstruktionen, verrauchte und von Abgasen zerfressene Bürogebäude, alte Fernsehantennen auf jedem Dach. Ihm war, als fände er sich hier Lichtjahre von der nächsten Zivilisation entfernt.

"Das stinkt hier aber auch fürchterlich." Einer seiner Reisebegleiter stand neben ihm. Der schien genauso zu empfinden, dies behauptete jedenfalls seine verkrampften Nasenflügel. Noch mehr Mitreisende entstiegen dem Bus, andere hatten bereits ihr Gepäck aus den Abteilen geholt. Niemand war in besonders guter Stimmung. Das lag sehr wahrscheinlich an den tiefgrauen Wolkenfetzen, die schlechtes Wetter für die kommenden Tage ankündigten.

Sie gingen gemeinsam ins Hotel hinüber, ins "Excelsior", ein Vier-Stern-Betrieb, der aus der ihn umgebenden Düsternis wie eine kleine Sonne hervorstrahlte. In einer ihm unbekannten Sprache meldete sie der Reiseführer an, nahm die Zimmerschlüssel entgegen und verteilte sie. Und schon bald fand sich ein jeder in seinem gemütlichen Zimmer, duschte sich die lange Reise vom Leib und entspannte sich, bis zum Abendessen gerufen würde.

Es würde nicht lange dauern, so dachte er, bis sie noch an diesem Abend einen ersten der mit Gold grosszügig verzierten Paläste von Antiqua sehen würden. Eigentlich hiess die Stadt ja Metropolis Antiqua, doch kürzte man den Namen üblicherweise ab. Der Reiseführer hatte ihnen sogar noch erklärt, dass die Einheimischen die Stadt schlicht Metropolis nannten. Ein Freund hatte ihm geraten, sie einmal zu besuchen, da die grossartigen Gebäude vergangener Zivilisationen und glorreicher Zeiten, die sich im Zentrum der Stadt befanden, unbeschreiblich seien. So hatte er sich denn einer Reisegruppe angeschlossen, hatte die zwölf Stunden im Car heil hinter sich gebracht und lag nun auf seinem Bett und betrachtete gelangweilt die Kassettendecke über sich.

Kurz darauf fand er sich in einem Kleinbus wieder, der durch enge Gässchen und tiefe Häuserschluchten kurvte, den Sehenswürdigkeiten und einem Restaurant entgegen. Hin und wieder verlor der Reiseführer ein paar Worte auf Englisch, doch viel - so sahen sie alle - gab es nicht zu kommentieren. Endlich öffnete sich eine Strasse vor ihnen, mündete in einen grossen Platz. Der Wagen hielt, und sie stiegen aus.

Der Anblick nahm ihn sofort gefangen. Wenn es auch bereits dämmerte, so ragte vor ihnen, den ganzen Platz in Anspruch nehmend, ein prächtiger Dom gen Himmel. Die Kuppel schien mit den Wolken zu verschmelzen, der Glockenturm sie sogar zu durchstechen. Klares Weiss mischte sich mit sanften Blau- und Rottönen, golden schimmernde Mosaike prangten über den Eingangsportalen. Fasziniert starrte er nach oben, versuchte die ganze Front mit einem Blick in sich zu verschlingen.

"Der Dom St. Thomas ist eines der grössten heiligen Bauwerke des gesamten Christentums." Der quäkende Lautsprecher, dessen sich ihr Führer bediente, liess den Zauber abrupt verlöschen. Doch ein Blick in die Runde liess ihn sofort erkennen, weshalb dieses Übel notwendig war. Um sie herum fanden sich weitere Touristengruppen. Hunderte von Personen fanden sich auf dem Platz, und alle wollten sie den Dom sehen. Noch mehr Touristen...

Glücklicherweise gingen sie dann schnell in ein schickes Restaurant zum Abendessen. Er erkannte allerdings erst nach dem Essen, dass die Preise in solch einem Touristenrestaurant doch ziemlich happig waren. Dabei war sein Budget nicht auf teure Ferien ausgerichtet. Ihm war es sogar ein wenig peinlich gewesen, dass er ohne die englische übersetzung der Namen der Speisen und die Erklärungen derselben aufgeschmissen gewesen wäre. Das war wohl der Preis des Touristseins. Jedenfalls beschloss er, in aller Ruhe darüber zu schlafen.

Am nächsten Morgen stand der Besuch des archäologischen Museums auf dem Programm. Doch die lange Schlange, die bereits auf den Eingang zukroch, schien giftig, wenn nicht sogar tödlich zu sein. Erst eine halbe Ewigkeit später trat dann auch er ein, fragte sich aber sogleich, was für ein Chaos ihn wohl im Innern erwarten würde. Lustlos betrachtete er zerschlagene Vasen, zerfressene Bilder und verrostete Zierstücke. Alle waren in der ihm fremden Sprache beschriftet, so dass er nicht einmal begriff, was er eigentlich vor sich hatte. Zu weiteren Überlegungen kam er nicht, die Menge schob ihn weiter.

In einem malerischen kleinen Lokal mit einer ach so überwältigenden Aussicht zu der die Stadt umgebenden, sich in sanftem Grün wölbenden Hügellandschaft assen sie zu Mittag. Zum wiederholten Mal bestand die Konversation zwischen Kellner und Führer aus unverständlichen Lauten. Konnte der Kellner denn wirklich kein Englisch? Wenn das Mahl auch noch so lockte, er ass hastig und mit grossen Bissen. Auf ein Dessert verzichtete er.

Nach weiteren Besuchen verschiedenster Kirchen entschied er, sich für den Rest des Abends von seiner Gruppe zu trennen. Während die anderen zu überrissenen Preisen dinierten, suchte er in gebrochenem Englisch sich ein Wörterbuch zu kaufen. Mit diesem in der Hand und neuem Mut zog er in das erstbeste Wirtshaus ein, übersetzte die halbe Speisekarte und bestellte teils stockend ablesend, teils buchstabierend etwas ihm Unbekanntes, das zwar merkwürdig schmeckte, das er aber trotzdem genoss.

Anschliessend unternahm er allein einen kleinen Abendbummel durch die Gassen Antiquas. Die tiefen Kanäle, die sich zwischen die Häuser gefressen hatten, wirkten eher düster und abstossend. Kaum eine Person war hier anzutreffen, es herrschte beinahe unheimliche Stille. Nur in den von Schaufenstern und Restaurants erhellten Hauptgassen fühlte er sich nicht so verloren. Und dennoch gehörte alles zu ein und derselben Stadt. Oder etwa nicht?

Mit ein wenig aufgehellter Stimmung kehrte er später ins Hotel zurück, wo er sich wiederum auf eine Konversation in der für ihn ansonsten fremden Sprache einliess. Diese Nacht schlief er lange und tief.

Der nächste Tag sollte bereits der letzte der Tour sein, am Abend würde der Bus zurückfahren. So schloss er sich erneut seiner Gruppe an, um noch mehr von der faszinierenden Kultur von Metropolis Antiqua zu sehen. Sie besuchten einige Kirchen der vergangenen Jahrhunderte, und sogar dort hallte die Stimme ihres Reiseführers durch die Gewölbe, erklärte Baustile und Bilder, erzählte einige Anekdoten, und weiter ging's.

Nach dem Mittagessen war jedem freigestellt, was er noch gesehen haben wollte. So schlenderte er nun auch noch bei Tage durch fröhliche Gassen. Kinder, Hunde und Katzen spielten zwischen den Eingängen, Wäsche flatterte über seinem Kopf im Wind, Hausfrauen palaverten zwischen Fensterrahmen, andere kamen gerade vom Einkaufen zurück. Er stolperte. Beim erneuten Aufschauen hingen nur noch traurig einige verwaschene Kleidungsstücke quer über die Gasse.

Die Bedienung im kleinen Strassencafé, in dem er noch einen Abschiedstrunk zu sich nahm, war herzlich; doch kaum versuchte er sich ungeschickt in ihrer Sprache, hielt sie sich plötzlich zurück. So kehrte er traurig ins Hotel zurück, nahm sein Abendessenpaket in Empfang und verschwand im Innern des Busses.

Erst als sie bereits den Stadtrand erreicht hatten, blickte er sich um, richtete einen langen Blick zurück und flüsterte: "Bis zum nächsten Mal, Metropolis!" Er wusste, er würde zurückkehren. Doch vorher musste er noch eine Menge lernen. Er öffnete sein Wörterbuch und begann...

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